Zwischen Müll und Hoffnung | Sie sammelte Flaschen zum Überleben bis ein halbverhungerter Hund ihr Leben veränderte

🐾 Teil 6: Wenn das Herz zögert


Marlies saß auf dem Boden, die Knie hart gegen die Dielen gepresst.
Baldo lag vor ihr, reglos, nur der Atem ging flach auf und ab.
Aber seine Augen wirkten fremd.
Als wären sie noch da und doch schon woanders.

Das Winseln aus dem Vogelhaus hatte sie nicht eingebildet.
Es war da gewesen, ganz deutlich.
Ein Ton, wie von einem verletzten Tier, oder von etwas, das tief in der Erinnerung lag.

Aber jetzt zählte nur Baldo.

Sie griff nach dem Telefon, wählte mit zitternden Fingern.
Es war kurz nach Mitternacht.

Marie hob nach dem dritten Klingeln ab.

„Mama?“

„Es ist Baldo. Er… ich glaube, es ist ernst.“

„Ich komme sofort.“


Im Notdienst der Tierklinik roch es nach Desinfektion und Angst.
Marlies saß auf einem wackeligen Stuhl im Wartebereich, ein Becher mit abgestandenem Automatenkaffee in der Hand.
Marie stand an der Anmeldung, sprach leise mit der Helferin.

Baldo war in einem der hinteren Räume.
Er hatte nicht protestiert, als sie ihn auf die Trage legten.

Ein Arzt kam.
Jung, dunkle Locken, müder Blick.

„Er hat wahrscheinlich ein Herzproblem. Möglicherweise altersbedingt, möglicherweise angeboren. Wir machen Ultraschall und Blutbild.“

„Wie schlimm ist es?“, fragte Marlies.

Der Arzt zögerte.

„Wir tun, was wir können. Aber Sie sollten sich auf alles einstellen.“


Sie wartete bis zum Morgengrauen.
Marie brachte ihr eine Decke, ein Croissant, einen stillen Blick.

Als der Arzt zurückkam, hielt er eine Mappe in der Hand.

„Er ist stabil. Aber wir behalten ihn zur Beobachtung. Sein Herz ist schwach, und er hat Flüssigkeit in der Lunge. Das kann behandelt werden vorerst.“

Marlies nickte.
Sie war zu müde, um etwas zu sagen.
Aber ihr Herz klopfte schneller.
Er lebte. Noch.


Zuhause war alles stiller als sonst.
Das Körbchen leer, der Napf unangerührt.

Marlies ging in den Garten, der Schnee war knirschend und trocken.
Sie trat vorsichtig an das Vogelhaus heran.

Noch einmal hörte sie es.

Ein leises Kratzen.
Ein Hauch, wie ein Seufzen.

Sie nahm das Haus von der Halterung, stellte es auf den Gartentisch.
Ein kleiner Spalt war in der Rückwand.
Sie beugte sich näher.

Darin lag – nichts.
Nur trockenes Laub. Ein Stück Zeitung von 1993.
Und eine alte Fotografie.

Ein Kind mit Sommersprossen, neben einem Hund.
Nicht Baldo. Ein anderer. Klein, zottelig.

Sie drehte das Foto um.
„Anni & Bommel – Sommerferien am Bach.“

Marlies erinnerte sich.

Anni hatte einen Hund gehabt.
Einen, den sie nach dem Umzug nicht mitnehmen durfte.
Der blieb bei Marlies für ein paar Wochen.
Und dann… war er verschwunden.

Nie darüber gesprochen.
Nie verarbeitet.

Vielleicht war das Winseln nichts als Erinnerung.
Oder ein Echo von damals.
Aber es war nicht umsonst gewesen.


Am nächsten Tag kam der Anruf aus der Klinik.

„Sie können ihn abholen.“

Marlies zitterte, als sie den Hörer auflegte.
Marie fuhr sie.

Im Behandlungsraum lag Baldo auf einer weichen Decke.
Er sah sie an, langsam, schwer.
Aber da war wieder Licht in seinen Augen.

„Du alter Kämpfer“, flüsterte Marlies.
Sie beugte sich vor, küsste ihn zwischen die Ohren.

Der Arzt überreichte ihr Medikamente.

„Zweimal täglich. Schonung. Keine langen Spaziergänge. Aber Nähe – Nähe hilft mehr als alles andere.“


Zuhause richtete sie ihm eine Ecke im Wohnzimmer ein.
Mit Kissen, Decke, Wärmflasche.
Sie schlief auf dem Sofa daneben.

Max schlich sich abends zu ihnen, legte seinen Stoffhasen neben Baldos Schnauze.

„Wenn du schlecht träumst, kann er helfen“, sagte er leise.

Und Baldo, ganz langsam, stupste den Hasen mit der Nase.


Eine Woche verging. Dann zwei.

Baldo wurde stärker.
Nicht jung aber wach.
Er fraß mit Appetit, hob beim Spazierengehen wieder den Kopf.

Marlies holte die Zeitung vom Gartentisch.
Das Foto ließ sie rahmen und stellte es neben das Fenster.

Anni und Bommel.
Vergessene Namen, die wieder atmen durften.


Eines Tages stand ein Fremder am Gartentor.

Er war etwa fünfzig, trug eine dicke Mütze und hatte einen leichten Hinkefuß.

„Sind Sie Marlies Kottmann?“, fragte er.

„Ja.“

„Ich bin Holger Reuter. Ich bin Annis Bruder.“

Marlies stockte der Atem.

„Ich hab von der Geschichte gelesen. Der Hund, das Vogelhaus… Ich wusste nicht, dass es noch steht.“

„Ich auch nicht“, sagte Marlies leise.

Er zog ein altes Notizbuch aus der Jackentasche.

„Anni ist letztes Jahr gestorben. Ich hab beim Ausräumen ihre Sachen gefunden. Auch das hier.“

Er reichte ihr das Notizbuch.

Innen: Zeichnungen.
Das Vogelhaus. Der Garten. Baldo als Skizze, vermutlich nach dem Artikel.
Und ganz hinten: ein Brief.

Liebe Marlies,

falls du das liest, bin ich wohl schon fort.

Ich wollte mich bedanken – für Bommel, für den Sommer, für deine Geduld.

Ich habe dich nie vergessen.

Und ich hoffe, du bist nie ganz allein.


Marlies saß lange im Wohnzimmer, das Notizbuch auf dem Schoß.
Baldo schnarchte leise neben ihr.

Marie trat ein, blieb stehen.

„Was ist das?“

„Eine Erinnerung“, sagte Marlies.
„Eine, die ich gebraucht habe.“


An diesem Abend schneite es wieder.

Sie zündete eine Kerze an, stellte sie ins Vogelhaus.
Nicht für Bommel. Nicht für Anni.
Für all das, was geblieben war, obwohl es hätte vergehen sollen.

Und während die Flamme flackerte, hob Baldo den Kopf.

Er bellte leise.
Nur einmal.

Als wolle er sagen: Ich bin noch hier.


Am nächsten Morgen lag vor dem Gartentor ein Paket ohne Absender, aber mit einem Geruch, den Baldo sofort erkannte.

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