🐾 Teil 9: Wenn einer geht
Der Morgen war still.
Keine Vögel, kein Autolärm, nicht einmal das Klappern von Mülltonnen.
Marlies erwachte früh, noch bevor das Licht richtig ins Zimmer fiel.
Sie hatte schlecht geschlafen.
Immer wieder war sie aufgewacht, hatte auf Baldos Atmung gehört.
Sie war flach gewesen, kaum hörbar aber sie war da.
Jetzt stand sie auf, vorsichtig, tastete sich durch den Flur.
Max schlief noch.
Marie war längst zur Arbeit.
Nur das leise Ticken der Küchenuhr war zu hören.
Im Wohnzimmer war alles wie am Abend zuvor.
Die Decke, die Tasse mit dem Kamillentee, das halboffene Buch.
Und Baldo.
Er lag ganz ruhig auf seinem Kissen.
Seine Augen waren offen, doch sie sahen nicht mehr.
Seine Brust hob sich nicht.
Marlies blieb stehen.
Ganz still.
Wie eingefroren.
Dann ging sie langsam zu ihm, kniete sich hin.
Streichelte über sein Fell.
Es war noch warm. Aber da war kein Leben mehr.
„Mein Junge“, flüsterte sie.
„Du bist gegangen, ohne Lärm. Wie du gekommen bist.“
Sie weinte nicht sofort.
Es war, als müsse ihr Körper erst begreifen, dass etwas fehlte.
Etwas, das in den letzten Monaten größer geworden war als jede Angst, jede Einsamkeit, jede Lücke im Portemonnaie.
Max kam kurz darauf in die Küche.
Er sah Marlies am Tisch sitzen, mit der Hundemarke in der Hand.
„Ist er…?“
Sie nickte.
Max setzte sich zu ihr, ganz nah.
Dann legte er den Wollball auf den Tisch.
„Den kann er mitnehmen.“
Marlies schloss die Augen.
Sie rief Marie an.
Die Tochter kam sofort.
Als sie das Wohnzimmer betrat und Baldo sah, blieb sie einfach in der Tür stehen.
Keine Worte, kein Weinen.
Nur ein langes, leises Ausatmen.
Dann ging sie zu ihrer Mutter, umarmte sie.
Fest, still.
„Er war Familie“, sagte sie.
„Er war Rettung“, antwortete Marlies.
Jule Breidenbach kam am Nachmittag.
Eigentlich für das Interview.
Jetzt für einen Abschied.
Sie legte die Kamera beiseite, setzte sich mit einer Thermoskanne an den Tisch.
„Ich habe eine Freundin“, sagte sie.
„Tierbestatterin. Sie arbeitet ruhig, mit Herz. Ich kann sie anrufen.“
Marlies nickte.
„Er soll nicht einfach weg. Er soll… bleiben. Irgendwie.“
Zwei Stunden später kam die Frau.
Sie war leise, hatte warme Hände.
Sie wickelte Baldo in eine Decke, so, als schliefe er nur.
„Wir können ihn einäschern“, sagte sie.
„In einer kleinen Urne. Für den Garten. Fürs Fensterbrett.“
Marlies sagte leise: „Ja. Aber nicht irgendwas. Etwas mit Erde. Holz vielleicht. Nichts Glänzendes.“
„Verstanden.“
Am Abend saßen sie zu dritt am Küchentisch.
Marlies, Marie und Max.
Draußen zog Wind durch die Zweige, die ersten Knospen wippten im Takt.
Marlies trank Tee.
Ihre Hände waren ruhig, aber ihre Augen leer.
„Ich wusste, dass es kommt“, sagte sie.
„Aber jetzt ist es doch… zu still.“
Marie legte eine Hand auf ihre.
„Wir haben ihn nicht verloren. Wir haben ihn gehabt. Das ist mehr, als viele je sagen können.“
Max sagte: „Ich will ein Bild malen. Für ihn. Und das hängen wir an das Vogelhaus.“
„Ja“, sagte Marlies.
„Das machen wir.“
Am nächsten Tag malte Max.
Ein Bild mit Buntstiften, dick aufgetragen.
Baldo, Bommel, ein Garten, und oben drüber: ein Herz.
Darin stand: „Danke.“
Sie laminierten das Bild, hängten es ans Vogelhaus.
Marlies stellte eine kleine Schale Wasser daneben.
„Falls jemand Durst hat, der noch kommt.“
Drei Tage später kam die Urne.
Sie war aus dunklem Holz, schlicht, mit einer kleinen Pfote eingraviert.
Keine Namen. Keine Zahlen.
Nur ein Symbol.
Marlies hielt sie lange in den Händen, bevor sie sie auf das Fensterbrett stellte.
Neben die Hundemarke.
Neben das Foto.
Zwischen Erinnerung und Licht.
Am selben Abend saßen sie wieder im Wohnzimmer.
Max las laut vor.
Ein Buch über Freundschaft.
Plötzlich ein Geräusch an der Scheibe.
Ein Vogel, winzig, grau, pickte gegen das Glas.
Einmal. Zweimal. Dann flog er weiter.
Marlies stand auf, ging zum Fenster.
Sah ihm nach.
„Vielleicht war er’s“, flüsterte Max.
„Vielleicht“, sagte Marlies.
In der Nacht träumte sie von einem Feld.
Weit, golden, voller Wind.
Baldo rannte durch das Gras.
Und Bommel hinter ihm.
Beide frei, beide leicht.
Als sie aufwachte, fühlte sie sich nicht mehr leer.
Nicht geheilt. Aber getragen.
Eine Woche später kam Post.
Ein dicker Umschlag, handgeschrieben.
Drin: ein Buch.
Titel: Hoffnung auf vier Pfoten.
Autorin: Jule Breidenbach.
Vorne eingeklebt: ein Bild von Baldo.
Und eine Widmung.
Für Marlies. Für Baldo.
Für all jene, die aus wenig alles machen.
Marlies stellte das Buch ins Regal.
Aber manchmal nahm sie es abends zur Hand.
Las laut.
Nur für sich.
Und vielleicht für jemanden, der noch lauschte.
Am ersten Frühlingstag lag etwas im Vogelhaus, ein welkes Halsband, umschlungen von frischem Gras.