Ich dachte, die schwerste Entscheidung läge hinter mir. Doch als die Haustür ins Schloss fiel und zwei alte Seelen gleichzeitig in meine Wohnung traten, begriff ich: Das war nicht das Ende der Geschichte – das war ihr Anfang.
Die Heizung rauschte leise, als wolle sie sich Mühe geben. Trotzdem roch der Flur erst einmal nach Winter: nach nasser Wolle, kalter Luft, einem Hauch Tierheim, den man nicht waschen kann wie einen Schal. Kuno trat als Erster ein, vorsichtig, mit dieser ruhigen Würde, die er im Zwinger gehabt hatte, als würde er die Welt nicht mehr überraschen lassen.
Senta kam direkt hinter ihm, nicht neugierig, nicht stürmisch – eher, als klebte sie an seiner Schulter wie ein Schatten, den man nicht abschütteln darf. Ihre Krallen klickten auf dem Parkett, unsicher, tastend. Ich hielt beide Leinen fest, obwohl ich sie längst hätte loslassen können.
„Das ist euer Zuhause“, sagte ich, und meine Stimme klang fremd in der Stille.
Kuno schnupperte an der Fußleiste, an meinem Schuh, an der Ecke der Kommode. Dann ging er geradewegs ins Wohnzimmer, als hätte er diese Route bereits hundertmal im Kopf gezeichnet. Senta blieb im Türrahmen stehen, der Körper leicht geduckt, die Augen groß, aber nicht panisch – eher leer vor Anstrengung.
Ich machte den Fehler, den man macht, wenn man nicht weiß, wie tief ein Hund in seinem eigenen Erinnern steckt. Ich nahm Sentas Leine ab, lächelte ihr zu und ging in die Küche, um Wasser zu holen. Nur zwei Schritte. Vielleicht drei.
Hinter mir kam kein Jaulen. Kein Knurren. Kein Geräusch, das mich hätte warnen können. Stattdessen hörte ich ein leises Scharren, so fein, als würde jemand mit den Fingernägeln über Papier kratzen.
Als ich mich umdrehte, stand Senta wie eingefroren am Übergang zum Flur. Kuno war im Wohnzimmer, außerhalb ihres Blickfelds. Zwischen ihnen lag nichts als ein paar Meter Parkett und doch wirkte es wie ein Abgrund.
Senta hob die Pfote. Genau diese rechte Pfote. Nicht hoch, nicht fordernd, nur ein kleines Zittern in der Luft, als suche sie ein Gitter, das nicht mehr da war. Dann begann sie zu hecheln, schnell und flach, ohne dass ihr Körper sich bewegte. Ihre Augen fanden meinen nicht. Sie sah durch mich hindurch.
„Hey“, sagte ich sofort, zu laut, zu hektisch. Ich stellte den Napf ab, als sei er plötzlich unwichtig. „Senta, alles gut. Kuno ist da.“
Ich ging auf sie zu, langsam, die Hände unten, wie man es in Ratgebern liest. Aber Senta hörte kein Wort. Sie machte einen Schritt zurück, und noch einen. Nicht weg von mir – weg von der Stelle, an der Kuno verschwunden war.
In diesem Moment verstand ich, dass ihre Panik nicht Lärm war. Sie war Stille. Ein inneres Wegkippen.
Ich rief Kuno beim Namen, leise. „Kuno.“
Er kam sofort. Nicht hastig, nicht aufgeregt. Er trat in den Flur, sah Senta an, und es war, als würde jemand eine Schraube nachziehen. Senta atmete einmal tief ein, als hätte sie vergessen, wie man das macht. Sie ließ die Pfote sinken.
Kuno ging zu ihr, drückte seine Flanke an ihren Hals, genau wie im Tierheim am Gitter. Senta lehnte sich gegen ihn, und ich sah, wie das Zittern aus ihren Beinen abfloss.
Ich stand da mit einem Wassernapf in der Hand und fühlte mich absurd klein. Als hätte ich gerade gelernt, dass Liebe nicht immer zu mir gehört, sondern manchmal zwischen zwei Wesen lebt, die ich nur begleiten darf.
„Okay“, flüsterte ich. „Okay. Ich hab’s verstanden.“
Ich legte zwei Decken nebeneinander, direkt im Wohnzimmer, an der Wand, damit sie nicht im Raum verloren wirkten. Ich stellte zwei Näpfe hin, aber so nah, dass ihre Köpfe sich fast berühren konnten. Ich hatte im Kopf diese Vorstellung von Ordnung: ein Napf links, ein Napf rechts, klare Struktur. Doch in dieser Wohnung zog gerade eine andere Ordnung ein – ihre.
Kuno trank erst, langsam, schluckweise. Senta tat so, als hätte sie Durst, aber sie schaute dabei ständig zu ihm, als müsse sie sich vergewissern, dass er nicht verschwindet, wenn sie den Kopf senkt.
Später, als es dämmerte, schaltete ich eine kleine Lampe an. Das Licht war warm, aber draußen war alles blau und hart. Die Fenster zeigten die Welt wie eine kalte Postkarte. Und in mir lief plötzlich eine Rechnung an, die nichts mit Geld zu tun hatte.
Zwei alte Hunde. Zwei Geschichten. Zwei Körper, die vielleicht nicht mehr viele Jahre hatten. Und ich – ein Mensch, der immer geglaubt hatte, man kann Fürsorge planen wie einen Kalender.
Ich setzte mich auf den Teppich, nicht aufs Sofa. Ich wollte auf ihrer Höhe sein. Kuno sah mich an, blinzelte einmal langsam, als prüfe er, ob ich verstanden habe, was ich heute unterschrieben hatte – nicht auf Papier, sondern irgendwo tiefer.
Senta hielt Abstand. Nicht aus Misstrauen. Eher aus Gewohnheit. Als wäre Nähe etwas, das man sich nicht einfach nimmt, sondern nur erhält, wenn jemand sie einem erlaubt.
Ich streckte meine Hand aus, nicht direkt zu ihr, sondern auf den Boden zwischen uns. Eine Einladung, kein Griff. Senta sah die Hand an, als sei sie ein fremdes Objekt. Dann schaute sie zu Kuno.
Kuno rührte sich nicht. Aber sein Blick sagte etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte. Keine Aufforderung, kein Befehl. Nur: Du darfst.
Senta machte einen Schritt. Dann noch einen. Ihr schiefes Ohr zuckte, als hätte sie ein Geräusch gehört, das nur sie kennt. Schließlich senkte sie den Kopf und schnupperte an meinen Fingerspitzen. Ganz kurz berührte ihr Nasenleder meine Haut – kalt und feucht – und ich merkte, wie mein Hals eng wurde, als hätte ich zu schnell geschluckt.
„Danke“, sagte ich, und es war lächerlich, einem Hund zu danken. Und gleichzeitig war es das Einzige, was passte.
In dieser ersten Nacht schlief ich kaum. Nicht, weil sie Lärm machten. Im Gegenteil. Es war diese neue, fremde Stille, die anders war als die leere Stille von vorher. Sie war voll. Voll von Atemzügen, von kleinen Bewegungen, von einem leisen Seufzen, wenn Kuno seine Position änderte.
Gegen drei Uhr wachte ich auf, weil ich meinte, etwas gehört zu haben. Ich stand auf und ging barfuß ins Wohnzimmer. Der Boden war kalt, aber ich spürte es kaum.
Kuno und Senta lagen eng aneinander, so wie im Auto. Kuno hatte den Kopf auf Sentas Rücken gelegt. Senta war so zusammengerollt, dass sie aussah wie ein Fragezeichen. Und trotzdem – trotz der Ruhe – zitterte ihre Flanke leicht.
Nicht vor Kälte. Vor etwas anderem.
Ich kniete mich hin und legte meine Hand vorsichtig auf die Decke, nicht auf sie. Kuno öffnete ein Auge, sah mich, schloss es wieder. Es war, als würde er sagen: Nicht stören. Nur da sein.
Also blieb ich einfach sitzen. Minutenlang. Ich hörte den Kühlschrank brummen, draußen irgendwo ein Auto, das über nassen Asphalt fuhr. Und ich dachte an Frau Ehlers’ Worte: eine Seele in zwei Körpern.
Am nächsten Morgen war die Wintersonne wieder da, genau wie im Tierheim, nur dass sie jetzt durch meine Fenster fiel. Sie machte Staub sichtbar, diese kleinen tanzenden Körner, die zeigen, dass selbst in einer aufgeräumten Wohnung Leben passiert.
Ich ging mit ihnen raus, gleich nach dem Kaffee, noch bevor ich wirklich wach war. Zwei Leinen in der Hand, die sich ständig kreuzten, weil Senta nie links oder rechts bleiben konnte. Sie blieb nur da, wo Kuno war.
Unten auf dem Gehweg blieb sie plötzlich stehen, als wir an einem Metalltor vorbeikamen. Ein normales Tor, nichts Besonderes. Aber ihr Körper spannte sich an, als hätte das Metall eine Erinnerung in sich.
Kuno drehte sich zu ihr, berührte sie kurz mit der Schulter. Senta atmete wieder aus, aber ihre Augen waren glasig.
Ich merkte, wie schnell ich in dieses „Ich löse das“-Denken rutschte. Ich wollte sie ablenken, wollte sie ziehen, wollte weitermachen, als könne man Angst einfach überholen. Doch dann sah ich Kuno.
Er zog nicht. Er wartete. Er wartete, als wäre Geduld eine Form von Schutz.
Also wartete ich auch.
Es dauerte vielleicht zehn Sekunden. Vielleicht dreißig. Zeit ist merkwürdig, wenn jemand innerlich kämpft. Dann setzte Senta einen Schritt. Und noch einen. Und plötzlich lief sie wieder, nicht fröhlich, aber stabil.
„Gut gemacht“, murmelte ich, mehr zu mir als zu ihr.
Die Nachbarin im Erdgeschoss – Frau Brenner, Mitte sechzig, streng geföhnte Haare, immer ein bisschen zu laut im Treppenhaus – kam uns entgegen. Sie blieb stehen, musterte die beiden Hunde, dann mich.
„Sind das… zwei?“ fragte sie, als hätte ich eine exotische Pflanze ins Haus getragen.
„Ja“, sagte ich.
Ihr Blick rutschte über Sentas schiefes Ohr, über das struppige Fell, über Kunus grauen Bart. „Sind die… überhaupt noch gesund genug?“
Es war keine Bosheit. Es war diese deutsche Art, die Welt in Kategorien zu sortieren: sinnvoll oder unsinnig, effizient oder riskant. Ich kannte das. Ich war lange selbst so gewesen.
„Sie sind alt“, sagte ich ruhig. „Und sie gehören zusammen.“
Frau Brenner zog die Augenbrauen hoch. „Naja. Viel Erfolg.“
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