Als unsere Tochter zusammenbrach und wir lernten, was echter Reichtum bedeutet

An dem Abend, an dem Lea zum ersten Mal sagte: „Ich glaube, ich atme wieder normal“, begriff ich, dass unsere Geschichte hier im Schwarzwald noch längst nicht zu Ende ist, sie hat nur aufgehört, sich nach dem Drehbuch der anderen zu richten.

In den Wochen nach unserer ersten Kartoffelernte bekam unser Alltag neue, leise Routinen. Montag, Mittwoch und Freitag ging Lea für ein paar Stunden in die kleine Dorf­bibliothek. Anfangs brachte Eva sie mit dem Auto hin, so als müsste man ein rohes Ei transportieren, das bei jeder Erschütterung zerspringen könnte. Später ging Lea allein. Zu Fuß, über den schmalen Weg, der am Bach entlangführt.

Wenn sie zurückkam, roch sie nach Papier und Staub und manchmal nach Kinderlachen.

„Wie war’s?“, fragte ich dann.

Sie zuckte oft die Schultern. „Ruhig. Ich habe Bücher einsortiert, Ausweise verlängert, einer alten Frau geholfen, den Krimi zu finden, den sie schon dreimal gelesen hat.“

Sie machte eine Pause.

„Niemand hat mich angeschrien, weil ich eine E-Mail drei Minuten zu spät beantwortet habe.“

An einem dieser Abende saßen wir wieder am Küchentisch, der Tee dampfte, und draußen war der Wald nur noch ein dunkler Schatten. Lea starrte auf ihr Handy, das mit dem Display nach unten vor ihr lag, als wäre es eine schlafende Schlange.

„Ich habe heute eine Nachricht aus Berlin bekommen“, sagte sie schließlich.

Ich merkte, wie sich etwas in mir zusammenzog. „Von wem?“

„Vom alten Teamleiter. Sie haben mitbekommen, dass ich krankgeschrieben bin. Er meinte, wenn ich mich ‚berappelt‘ hätte, könnte ich zurückkommen. Neues Projekt, neue Chance. ‚Wir brauchen Leute wie dich‘, hat er geschrieben.“

Sie lachte leise, aber da war nichts Heiteres in diesem Laut.

„Leute wie mich, die jeden Abend zitternd ins Bett fallen“, murmelte sie.

„Was fühlst du, wenn du das liest?“, fragte ich.

Sie schwieg lange.

„Scham“, sagte sie dann. „Und… Versuchung. Es wäre einfacher, einfach wieder einzusteigen. So tun, als wäre nichts gewesen. So zu funktionieren wie alle anderen. Dann müsste ich niemandem erklären, warum ich mit 29 wieder bei meinen Eltern auf dem Land wohne.“

Ich atmete tief durch. „Weißt du, was ich fühle, wenn ich das lese?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Angst“, sagte ich. „Angst, dich wieder zu verlieren. Nicht heute oder morgen, aber Stück für Stück. In kleinen Überstunden, verschobenen Wochenenden, im Dauerklingeln deines Telefons.“

Lea sah mich lange an. In ihrem Blick lag ein Kampf, den ich nicht für sie austragen konnte.

Ein paar Tage später stand plötzlich ein Auto mit Großstadt-Kennzeichen vor unserem Haus. Zwei junge Menschen stiegen aus: eine Freundin aus dem Studium und ein Kollege aus Berlin. Sie hatten teure Jacken an, glänzende Turnschuhe und Gesichter, die aussahen, als hätten sie seit Wochen zu wenig geschlafen und zu viel Kaffee getrunken.

„Lea!“, rief die Freundin und fiel ihr um den Hals. „Wir mussten dich sehen. Wir dachten schon, du bist vom Erdboden verschluckt worden.“

In der Küche tranken sie Kaffee, der ihnen zu stark war, und machten Witze über unser langsames Internet. Sie sprachen schnell, abgehackt, als müssten sie jeden Satz zwischen zwei Terminen quetschen.

„Du kannst doch nicht einfach hierbleiben“, sagte der Kollege irgendwann. „Du hast so viel Potenzial. In zwei Jahren Leitungsebene, das habe ich dir doch immer gesagt.“

Lea drehte ihre Tasse in den Händen. „Und was, wenn ich keine Leitungsebene mehr will?“, fragte sie leise.

Er blinzelte, als hätte er sie nicht verstanden. „Wie meinst du das?“

Ich beobachtete sie, sagte aber nichts. Es war nicht mein Kampf.

„Ich…“, begann sie und brach ab. „In Berlin habe ich jeden Sonntag Bauchschmerzen gehabt, weil Montag kommt. Hier wache ich auf und habe Angst, dass ich nie wieder ‚jemand‘ sein werde. Egal, wie ich’s drehe, ich habe Angst.“

Die Freundin legte den Kopf schief. „Aber du kannst doch nicht ernsthaft denken, dass Erdäpfel ausbuddeln ein Lebensplan ist.“

Der Satz traf mich, obwohl er nicht mir galt. Ich hielt den Atem an.

Lea jedoch lachte plötzlich. Es war ein unsicheres, aber echtes Lachen.

„Weißt du, was komisch ist?“, sagte sie. „Ich habe in Berlin Präsentationen gehalten, Budgets geplant und Strategien vorgestellt und mich trotzdem jeden Abend gefühlt wie ein Kind, das zu groß gewordene Schuhe trägt. Hier stehe ich mit ungewaschenen Haaren im Garten, grabe in der Erde rum und fühle mich zum ersten Mal nicht wie eine Schauspielerin in meinem eigenen Leben.“

Stille. Nur der Ofen knisterte.

Der Kollege räusperte sich. „Das ist nur eine Phase“, meinte er. „Du brauchst einfach Urlaub.“

Lea schüttelte den Kopf. „Urlaub ist das, was man nimmt, um kurz vor dem Zusammenbruch noch einmal so zu tun, als sei alles gut. Ich glaube, ich brauche kein ‚weg von hier‘, sondern ein ‚hin zu mir‘.“

Als sie später wieder ins Auto stiegen, um zurück in die Stadt zu fahren, umarmte die Freundin mich zum Abschied.

„Sie war immer die Starke von uns“, flüsterte sie. „Ich wusste nicht, dass es ihr so schlecht ging.“

„Starke Menschen merkt man oft erst dann an, dass es ihnen schlecht geht, wenn sie schon sehr lange still waren“, sagte ich.

In den nächsten Tagen wirkte Lea ruhiger. Sie verbrachte Zeit in der Bibliothek, im Garten und zu meiner Überraschung – an meinem alten Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer.

„Was machst du da?“, fragte ich einmal, als ich sie beim Schreiben erwischte.

Sie schob das Notizbuch halb unter einen Stapel Papiere, wie ein Teenager, der beim Tagebuchschreiben gestört wird.

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