„Ich versuche aufzuschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich nicht mehr mithalten kann“, murmelte sie. „Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die denkt, sie wäre das Problem, statt das System.“
„Willst du das jemandem zeigen?“, fragte ich.
Lea zuckte mit den Schultern. „Vielleicht irgendwann. Vielleicht ist es aber auch nur für mich. Damit ich nicht vergesse, wie es sich anfühlt, ganz unten zu sitzen und zu glauben, man hätte versagt.“
Der Herbst wurde kälter, die Abende länger. Wir begannen, Holz zu stapeln, planten die Wintervorräte. Eines Abends setzte sich Lea zu uns ans Feuer. Sie hatte rote Wangen von der Kälte und riechende Haare nach Rauch.
„Ich habe heute mit der Bibliothekarin gesprochen“, sagte sie. „Sie sucht jemanden, der eine kleine Veranstaltungsreihe organisiert. Für Menschen, die ausgebrannt sind, überfordert, müde vom Funktionieren. Lesekreise, Gespräche, einfach ein Raum, in dem niemand beweisen muss, wie viel er leistet.“
Sie sah erst Eva an, dann mich.
„Ich habe ihr von euch erzählt. Von unserem Garten, von unserem ‚Aufgeben‘, das eigentlich keines war. Und sie meinte… vielleicht ist genau das eine Geschichte, die anderen Mut machen könnte.“
Mein Herz zog sich zusammen, aber diesmal nicht vor Sorge, sondern vor einer seltsamen, leisen Freude.
„Und?“, fragte ich. „Was hast du gesagt?“
Lea lächelte.
„Ich habe gesagt, dass ich niemandem erklären kann, wie man sein Leben richtig lebt. Aber ich kann erzählen, wie es ist, wenn man merkt, dass das eigene Herz zu klein für das Lärmlevel draußen ist und was passiert, wenn man es leiser dreht.“
Eva griff nach ihrer Hand. „Und? War sie interessiert?“
„Sie hat gelacht und gesagt: ‚Wir fangen klein an. Vielleicht kommen erstmal nur drei Leute. Aber wenn die drei nicht mehr denken, sie wären allein, hat es sich schon gelohnt.‘“
In dieser Nacht lag ich wach und hörte dem Haus zu. Dem Knacken des Holzes, dem Atem meiner Frau, dem fernen Rauschen des Waldes. Und irgendwo im Gästezimmer – das längst kein Gästezimmer mehr, sondern Leas Zimmer war – hörte ich das leise Umblättern von Papier.
Ich dachte an all die Wörter, mit denen ich früher meinen Wert gemessen hatte: Umsatz, Deadline, Zielerreichung. Und an die neuen Wörter, die langsam ihren Platz einnahmen: Ruhe, Zeit, Nähe, Vertrauen.
Vielleicht, dachte ich, ist das die eigentliche Prüfung unseres „einfachen Lebens“: nicht, wenn alles friedlich dahinplätschert, sondern wenn jemand mit einem zu schweren Koffer vor unserer Tür steht und fragt, ob hier noch Platz ist für ein kaputtes Herz.
Lea schlief irgendwann ein. Am nächsten Morgen kam sie verschlafen in die Küche, setzte sich an den Tisch und gähnte.
„Ich habe mir überlegt“, sagte sie, „ich bleibe erstmal. Die Bibliothek braucht mich. Und vielleicht brauche ich auch sie. Und euch.“
Sie sah mich an, als warte sie auf Widerspruch.
Stattdessen stellte ich ihr eine Tasse Tee hin.
„Dann sollten wir vielleicht ein größeres Gemüsebeet planen“, sagte ich. „Und ein paar mehr Stühle besorgen. Für den Fall, dass noch jemand mit einem zu teuren Koffer vor unserer Tür steht.“
Lea lachte. Es war kein angestrengtes, kein ironisches Lachen. Es war warm und klar, wie das Licht, das an manchen Morgen durch unser Küchenfenster fällt.
In diesem Moment wusste ich: Wir hatten nichts Spektakuläres erreicht. Keine Preise gewonnen, keine Titel gesammelt. Aber wir hatten einen Ort geschaffen, an dem ein Mensch wieder lernen konnte zu atmen.
Und vielleicht ist das, am Ende, der größte Reichtum von allen.






