Die Geschichte eines Mannes, dessen Erinnerung durch ein einfaches Pausenbrot wieder aufleuchtet

Zwei Wochen nach der ersten Brotdose merkte ich, dass das hier längst nicht mehr nur die Geschichte eines „auffälligen Patienten“ war, sondern die Fortsetzung einer Liebesgeschichte, die wir alle fast übersehen hätten. Und ich ahnte noch nicht, wie sehr dieses eine Pausenbrot unsere ganze Station verändern würde.

Friedrichs Zimmer roch inzwischen nicht mehr nur nach Desinfektionsmittel, sondern ein bisschen nach Kaffee, Butter und Gewürzgurken. Morgens, wenn ich die Frühschicht übernahm, stand seine Brotdose schon bereit auf dem Nachttisch, sauber ausgespült, der Deckel ordentlich aufgelegt, als würde er zur nächsten Schicht erwartet.

„Frühstückspause?“ fragte ich jedes Mal.

„Gleich nach dem Anfahren“, murmelte er oft, während er auf den Parkplatz hinaus sah, wo in seinem Kopf längst wieder das Werksgelände lag.

Es blieb nicht unbemerkt.

Die Kolleginnen grinsten zuerst, machten Scherze über meine „Luxusverpflegung“. Doch dann sahen sie, wie Friedrich wieder sicherer ging, wie er weniger schimpfte, wie der wilde, verzweifelte Blick in seinen Augen seltener wurde. Er war immer noch verwirrt, immer noch zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangen, aber dazwischen gab es Momente, in denen er einfach da war. Präsent.

Einmal, als ich ihm die Brotdose hinstellte, strich er mit den Fingern über den verkratzten Metalldeckel und murmelte: „Die Martha, die vergisst mich nicht, was?“

Ich schluckte. „Nein, Fritz“, sagte ich. „Sie vergisst dich nicht.“

Natürlich blieb auch die Verwaltung nicht blind.

Eines Morgens wurde ich ins Büro der Pflegedienstleitung gerufen. Auf dem Schreibtisch lagen Ausdrucke: Hygienevorschriften, Qualitätsrichtlinien, ein Formular mit meinem Namen, das Wort „Verwarnung“ in fetter Schrift – wieder einmal.

„Wir müssen darüber sprechen“, sagte die Pflegedienstleiterin und tippte mit dem Kugelschreiber auf die Papiere. „Lebensmittel von außen, ohne Dokumentation, ohne Diätplan… Sie wissen, was das bedeutet.“

Ich wusste es. Und ich wusste gleichzeitig, dass ich dieses Gespräch führen musste.

„Sehen Sie sich seine Werte an“, sagte ich ruhig. „Sein Gewicht. Seine Blutwerte. Sehen Sie, wie er wieder isst. Wie er nachts ruhiger schläft.“

Sie seufzte. „Es geht nicht nur um ihn. Wenn jeder anfängt, eigene Regeln zu machen…“

Ich unterbrach sie nicht. Stattdessen schob ich ihr den Ordner mit Friedrichs Kurve hin. Die aufsteigende Linie sprach ihre eigene Sprache.

Am Ende einigten wir uns auf einen Kompromiss.

Die Brotdose durfte bleiben unter der Voraussetzung, dass der Arzt informiert war, die Angehörigen einverstanden, alles dokumentiert. Kein heimliches „Konterband“ mehr, sondern offiziell genehmigter Teil der Betreuung.

„Und machen Sie bitte deutlich, dass das eine Ausnahme ist“, sagte die Pflegedienstleiterin streng.

Ich nickte. Aber in mir regte sich etwas, das wusste: Ausnahmen sind manchmal der Anfang von etwas Neuem.

Es dauerte nicht lange, bis andere Angehörige Fragen stellten.

„Was haben Sie mit Herrn Becker gemacht? Mein Vater isst seit Tagen kaum noch“, fragte eine Frau mit müden Augen, deren Mutter in Zimmer 12 lag.

Ich erzählte von der Brotdose, von der Serviette, von Martha.

„Was hat Ihren Vater früher ausgemacht?“ fragte ich zurück. „Was war sein Alltag? Was hat nach Arbeit gerochen, nach Zuhause, nach ‚Ich bin bei dir‘?“

Die Frau dachte lange nach. Einige Tage später brachte sie eine alte Blechdose mit selbstgebackenen Keksen vorbei, nach einem Rezept, das ihre Mutter früher für die Nachbarskinder gebacken hatte. Es war kein Wunderheilmittel. Aber als die alte Frau den ersten Keks roch, lächelte sie zum ersten Mal seit Wochen.

Wir begannen, anders Fragen zu stellen.

Nicht nur: „Hat der Patient gegessen?“

Sondern: „Wer war dieser Mensch, bevor wir ihn nur noch als Diagnose sehen?“

In der Teambesprechung erzählte ich von Friedrich. Von Martha. Von den Servietten.

Eine Kollegin meinte: „Eigentlich machen wir Biografiearbeit – nur viel zu selten so konkret.“

Der Stationsarzt kratzte sich am Kopf. „Wir können nicht für jeden eine Brotdose organisieren.“

„Nein“, antwortete ich. „Aber wir können damit anfangen, bei jedem wenigstens eine Frage mehr zu stellen.“

Während all das passierte, wurde Friedrich schwächer.

Sein Körper war alt, und auch wenn das Pausenbrot ihn gestärkt hatte – die Jahre im Stahlwerk, die langen Schichten, die Nächte mit Rückenschmerzen und Lungen voller Staub ließen sich nicht einfach wegfalten wie Wachspapier.

Eines Abends kam sein Sohn Daniel mit roten Augen auf die Station.

„Der Arzt hat gesagt, es kann sein, dass…“ Er brach ab.

Ich legte ihm die Brotdose in die Hände. „Möchten Sie ihm morgen selbst die Pause packen?“

Er nickte stumm.

Am nächsten Morgen war die Dose anders gefüllt:

Dunkles Brot, etwas dünner gestrichen, die Leberwurst sorgfältig verteilt, ein paar Scheiben Käse – „Mama hat ihm das manchmal so gemacht, wenn das Geld knapp war“, erklärte Daniel leise.

Er schrieb selbst auf die Serviette: „Bin bei dir. Dein Junge.“

Als wir die Dose an Friedrichs Bett brachten, war sein Atem flach. Seine Augen geöffnet, aber irgendwo weit weg.

„Mittagspause, Fritz“, sagte ich, wie jedes Mal. „Heute von Daniel.“

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