Mehr als nur Essen: Wie die ‚gruselige‘ Frau Hanke den stillen Hunger unserer Kinder stillte

„Mama, die Neue in der Mensa ist gruselig“, sagte mein Sohn Jonas vor vier Jahren, als er seinen Rucksack in die Ecke feuerte.

Er war damals in der achten Klasse, mitten in der Pubertät und chronisch genervt. „Wie meinst du das, gruselig?“ fragte ich und blätterte durch die Post. „Na ja, sie weiß alles. Sie kennt nach drei Tagen die Namen von allen. Von 800 Schülern! Wer macht sowas? Das ist doch nicht normal.“

Ich tat es als typisches Teenager-Gerede ab. Jonas übertrieb gerne. Wahrscheinlich war sie einfach nur freundlich, und für einen 14-Jährigen ist übermäßige Freundlichkeit eben verdächtig.

Dann kam der Elternsprechtag im November. Es war dieser typisch graue deutsche Spätherbst, es regnete in Strömen, und ich kam direkt von der Arbeit. Ich war gestresst, hungrig und viel zu spät dran.

Da ich noch zwanzig Minuten bis zum Termin beim Mathelehrer hatte, flüchtete ich in die helle, nach Großküche und Desinfektionsmittel riechende Mensa, um mir einen Kaffee zu holen.

Hinter der Theke stand sie. Frau Hanke. Eine Frau wie ein Eichenschrank, mit grauen Locken, die streng unter einem Haarnetz bändigt waren, und Händen, die aussahen, als hätten sie in ihrem Leben schon tausend Kartoffelsäcke geschleppt. Sie wischte gerade die Edelstahlausgabe.

„Sie sind die Mutter von Jonas“, sagte sie. Es war keine Frage. Sie sah nicht einmal hoch. Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Woher wissen Sie das?“ Sie legte den Lappen beiseite und sah mir direkt in die Augen.

Ihr Blick war warm, aber durchdringend. „Die gleichen Augen. Und dieselbe Art, die Schultern hochzuziehen, wenn man unter Strom steht. Jonas sitzt immer an Tisch vier, hinten am Fenster. Er nimmt immer das vegetarische Menü, obwohl er Schnitzel liebt, weil er das Mädchen aus der 8b beeindrucken will, die dort sitzt. Und er trinkt seinen Kakao immer in einem Zug leer, als hätte er Angst, dass ihn ihm jemand wegnimmt.“

Ich war sprachlos. „Sie wissen das alles über meinen Sohn?“

„Ich weiß es über alle“, sagte sie und wischte weiter. „Lukas aus der 10a nimmt freitags immer den Nachschlag, den ich ihm gebe, weil es bei ihm zu Hause am Wochenende oft nur Toastbrot gibt. Seine Mutter ist alleinerziehend, das Geld ist knapp. Sarah aus der Oberstufe zählt laut Kalorien, wenn ihre Freundinnen dabei sind, aber wenn sie alleine ist, sehe ich, wie ihre Hände zittern vor Hunger. Und der kleine Ben aus der Fünften wirft sein Pausenbrot weg, weil er sich für den Geruch der Wurst schämt, die sein Opa ihm einpackt.“

„Warum erzählen Sie mir das?“ fragte ich leise. Der Kaffee in meiner Hand wurde kalt.

Sie stützte sich auf die Theke. „Weil Sie da oben in den Klassenzimmern über Noten reden. Über den Numerus Clausus, über Versetzungen, über Leistungskurse.

Aber niemand redet darüber, wer hier unten sitzt und den Tränen nahe ist. Niemand redet darüber, wer wirklich Hunger hat – nicht im Magen, sondern im Herzen.“

„Und… was tun Sie?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Was ich kann. Ich bin die Küchenhilfe, keine Psychologin. Aber wenn ich Lukas eine extra große Kelle Gulasch gebe, dann drücke ich ein Auge zu. Wenn Ben kommt, sage ich ihm laut, wie lecker diese Wurst riecht, damit die anderen Kinder es hören und ihn nicht mehr hänseln. Und wenn Sarah kommt, gebe ich ihr den Pudding und flüstere ihr zu, dass das die ‚Light-Version‘ sei, auch wenn es der normale Sahnepudding ist. Damit sie sich erlaubt, zu essen. Manchmal bezahle ich einen Kakao aus meiner eigenen Tasche, wenn einer wieder ‚seine Karte vergessen hat‘, obwohl ich genau weiß, dass kein Guthaben mehr drauf ist.“

Ich fühlte einen Kloß im Hals. „Weiß die Schulleitung davon?“

Frau Hanke lachte trocken. „Die sehen Zahlen, Budgets und Hygienevorschriften. Die Kinder, die es wissen müssen, die wissen es. Das reicht.“

Ich ging nach Hause und konnte das Gespräch nicht vergessen. Ich fragte Jonas. Zögerlich bestätigte er alles. „Ja, Frau Hanke… sie ist der Fels in der Brandung. Letzte Woche hat sie gemerkt, dass Tim kurz vorm Heulen war. Sie hat ihm einfach wortlos einen Schokoriegel zugesteckt. Von ihrem eigenen Geld.“

Es stellte sich heraus, dass Frau Hanke seit 25 Jahren an dieser Schule arbeitete. Sie verdiente knapp über Mindestlohn. Sie kannte die Geschichte jedes Scheidungskindes, jedes Mobbingsopfers und jedes stillen Kämpfers in dieser riesigen Betonburg aus Glas und Stahl.

Sie meldete nichts dem Jugendamt, sie machte keine Aktennotizen. Sie war einfach da. Sie hörte zu, während sie Nudeln ausgab. Sie heilte kleine Wunden mit extra Portionen Soße und einem freundlichen Wort.

Letztes Jahr hatte Frau Hanke einen leichten Schlaganfall. Sie musste in den Ruhestand gehen. Die Schule reagierte “professionell”. Ein neuer Caterer wurde beauftragt. Alles wurde digitalisiert. Vorbestellung nur noch per App, Ausgabe per QR-Code-Scan.

Das neue Personal war effizient, schnell und hygienisch einwandfrei. Sie trugen Handschuhe und wechselten kein Wort zu viel. Niemand lernte Namen. Es ging um Durchsatz, nicht um Menschen.

Drei Monate später schlug der Schulsozialarbeiter Alarm. Die Stimmung in der Schule war gekippt. Es gab mehr Konflikte auf dem Pausenhof. Schüler, die früher stabil wirkten, brachen im Unterricht zusammen.

Niemand verstand warum. Bis ein Abiturient es in einer SV-Sitzung auf den Punkt brachte: „Frau Hanke wusste, wenn wir am Ertrinken waren. Sie warf uns Rettungsringe zu, getarnt als Kartoffelpuffer. Jetzt ist da niemand mehr, der aufpasst. Wir sind nur noch QR-Codes.“

Die Elternpflegschaft wurde aktiv. Der Förderverein schaltete sich ein. Natürlich konnte man Frau Hanke nicht wieder in die Küche stellen, das ging körperlich nicht mehr und die Verträge mit dem Caterer waren fest. Aber wir fanden einen Weg, einen deutschen Weg, wenn man so will.

Wir schufen eine Stelle über den Förderverein. Offiziell heißt es „Ehrenamtliche Pausenbegleitung mit Aufwandsentschädigung“.

Frau Hanke ist jetzt 69. Sie geht am Stock und kann keine schweren Tabletts mehr heben. Aber sie sitzt wieder in der Mensa. An einem kleinen Tisch am Eingang.

Sie lernt immer noch alle 800 Namen innerhalb von drei Tagen. Sie weiß immer noch, wer was braucht. Sie hat immer ein offenes Ohr und, wie durch ein Wunder, immer noch manchmal einen Schokoriegel in der Tasche, den sie natürlich selbst bezahlt hat.

Letzten Monat hat mein Sohn Jonas sein Abitur gemacht. Er stand auf der Bühne, im Anzug, den er kaum gewohnt war. In seiner Rede dankte er den Lehrern, klar.

Aber dann stockte er. Er suchte jemanden im Publikum. „Manche bringen uns Integralrechnung bei“, sagte er ins Mikrofon. „Manche lehren uns Geschichte. Aber Frau Hanke hat uns beigebracht, dass ‚Gesehen werden‘ manchmal der einzige Unterschied ist zwischen Aufgeben und Weitermachen.“

Die ganze Aula stand auf. 800 Schüler, Eltern und Lehrer applaudierten. Da saß sie, in der ersten Reihe, in ihrer besten Bluse, und wischte sich diskret eine Träne weg.

Es stellt sich heraus: Die „gruseligen“ Damen in der Mensa, die jeden Namen kennen? Sie sind oft die wichtigsten Personen im ganzen Gebäude. Nicht weil sie das Essen servieren. Sondern weil sie uns nähren, wo wir es am dringendsten brauchen.

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