Mehr als nur Essen: Wie die ‚gruselige‘ Frau Hanke den stillen Hunger unserer Kinder stillte

In diesem Moment öffnete sich die Schwingtür. Dr. Ebeling betrat die Mensa, gefolgt vom Hausmeister. Sein Blick fixierte Frau Hanke, die sich gerade wieder aufrichtete.

„Frau Hanke“, rief er durch den halben Saal. Seine Stimme hallte unangenehm von den Betonwänden wider. „Ich hatte ausdrücklich gesagt, dass der Gastraum den Schülern vorbehalten ist. Sie stören den Betriebsablauf.“

Es wurde totenstill in der Mensa. Die wenigen verbliebenen Schüler, die Putzkräfte, die Caterer – alle schauten zu.

Frau Hanke drehte sich langsam um. Sie stützte sich schwer auf ihren Stock. Sie sah nicht ängstlich aus. Sie sah aus wie ein General, der sein letztes Gefecht führt.

„Herr Direktor“, sagte sie mit einer Ruhe, die im Kontrast zu seinem scharfen Ton stand. „Ich störe nicht den Ablauf. Ich sorge dafür, dass der Treibstoff im Tank bleibt.“

„Wir klären das in meinem Büro. Sofort.“ Ebeling machte eine fordernde Geste.

Elif, das Mädchen, das eben noch wie ein Schatten wirkte, stand plötzlich auf. Ihr Stuhl kratzte laut über den Boden. Sie war klein, zierlich und zitterte. Aber sie stellte sich neben Frau Hanke.

„Sie hat mir geholfen“, sagte Elif. Ihre Stimme war brüchig, aber hörbar.

„Das tut nichts zur Sache“, blaffte Ebeling, der sichtlich unter Stress stand. „Es gibt Regeln.“

Dann geschah etwas, das man in keinem Digitalisierungskonzept planen kann.

Kevin, der Junge mit der Mandarine, kam vom Rückgabe-Band zurück. Er stellte sich auf die andere Seite von Frau Hanke. „Sie bleibt“, sagte er. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, eine Pose der halbstarken Drohung, die er auf dem Pausenhof gelernt hatte, aber hier setzte er sie für das Gute ein.

Ein Mädchen aus der Oberstufe, das gerade ihren Salat aß, stand ebenfalls auf. Dann zwei Jungs aus der 9. Klasse. Es war keine geplante Revolution. Es war eine stille Kettenreaktion.

Innerhalb von einer Minute standen die dreißig Schüler, die noch im Raum waren, um den Tisch herum. Sie bildeten einen Kreis um die alte Dame im Kittel und das weinende Mädchen. Eine Mauer aus Teenagern, Pickeln, Markenklamotten und stiller Entschlossenheit.

Dr. Ebeling stand da, sein Tablet in der Hand, und sah aus, als wäre sein Betriebssystem abgestürzt. Er war auf Widerstand der Eltern vorbereitet, auf Diskussionen im Lehrerkollegium. Aber er war nicht darauf vorbereitet, dass die „QR-Codes“ zurückbissen.

Ich trat vor. Das war mein Moment als Fördervereinsvorsitzende.

„Herr Dr. Ebeling“, sagte ich laut. „Es scheint, als hätten wir hier eine pädagogisch wertvolle Situation, die… nicht messbar ist.“

Er starrte mich an, dann die Schüler, dann Frau Hanke, die in der Mitte stand und Elif einfach nur die Hand auf die Schulter legte. Er begriff. Er war ein Technokrat, aber er war nicht dumm. Er wusste, wann er eine Schlacht verloren hatte. Wenn er jetzt auf seinem Recht bestand, hatte er am nächsten Tag einen Schülerstreik am Hals. Das wäre schlecht für die Presse. Schlecht für das Ranking der Schule.

Er straffte sich, drückte eine Taste auf seinem Tablet und zwang sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

„Nun“, sagte er. „Es scheint, als wäre das Konzept der… generationsübergreifenden Betreuung… effektiver als die aktuellen Datenlage vermuten ließ. Wir werden das im nächsten Quartal evaluieren.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Frau Hanke atmete tief aus und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Die Schüler lösten den Kreis auf, einige klopften ihr auf die Schulter oder murmelten ein „Danke“.

Ich ging zu ihr. Sie sah blass aus, aber sie lächelte ihr altes, warmes Lächeln.

„Das war knapp“, sagte sie. „Mein Herz macht so ein Theater nicht mehr oft mit.“

„Wir haben Zeit gewonnen“, sagte ich. „Aber er wird nicht lockerlassen.“

„Das muss er auch nicht“, sagte Frau Hanke und blickte zu Elif, die sich wieder an ihren Platz gesetzt hatte und – zum ersten Mal seit Wochen – eine Gabel Nudeln aß. „Ich bin alt, Schätzchen. Ich kann das hier nicht mehr ewig machen. Meine Beine wollen nicht mehr.“

Sie sah mich ernst an.

„Aber ihr habt jetzt gesehen, dass es geht. Ihr braucht nicht mich. Ihr braucht nur jemanden, der hinschaut. Ihr Eltern, ihr Lehrer. Ihr verlasst euch zu sehr auf uns ‚gute Geister‘. Aber wir Geister verschwinden irgendwann.“

In den folgenden Monaten passierte etwas Erstaunliches. Wir konnten Frau Hanke nicht ewig halten, das wussten wir. Aber der Vorfall in der Mensa hatte Wellen geschlagen.

Die SV (Schülervertretung) startete ein Projekt. Sie nannten es „Hankes Erben“. Ältere Schüler übernahmen Patenschaften für jüngere. Nicht für Nachhilfe, nein. Sondern einfach, um in der Mensa bei ihnen zu sitzen. Um zu schauen, ob jemand sein Brot wegwirft oder allein ist.

Wir vom Förderverein setzten durch, dass im neuen Budget statt der digitalen Feedback-Terminals eine halbe Stelle für eine reale pädagogische Fachkraft in der Mensa geschaffen wurd, aber mit einer Stellenbeschreibung, die wir gemeinsam mit Frau Hanke formuliert hatten: „Hauptaufgabe: Wahrnehmung der emotionalen Grundversorgung. Voraussetzungen: Empathie, Geduld und die Fähigkeit, Traurigkeit hinter einem Lächeln zu erkennen.“

Ein halbes Jahr später ging Frau Hanke endgültig. Diesmal wirklich. Ihr Körper forderte sein Recht. Es gab keine große Feier in der Aula, das wollte sie nicht.

Aber an ihrem letzten Tag, als sie ihren Kittel an den Haken hängte und ihren Stock nahm, hing über dem digitalen QR-Scanner am Eingang ein neues Schild. Ein Schüler aus dem Kunst-Leistungskurs hatte es gemalt.

Es war kein offizielles Schild der Schulleitung. Dr. Ebeling hatte es zähneknirschend geduldet, weil er wusste, dass jedes Entfernen einen Aufstand provozieren würde.

Auf dem Schild war kein Verbot und kein Gebot. Da war nur ein Bild von einer dampfenden Tasse Kakao und einer Hand, die eine andere hält. Und darunter stand in krakeliger Schrift: „Hier werden keine QR-Codes bedient. Hier werden Menschen satt. – In Tradition von Frau Hanke.“

Als ich sie zum Auto brachte, drehte sie sich noch einmal um und sah auf die gläserne Fassade der Schule, hinter der hunderte Schüler aßen, lachten und kämpften.

„Wissen Sie“, sagte sie und tippte mit dem knochigen Finger gegen meine Brust. „Die Welt ändert sich. Die Technik ändert sich. Aber Hunger, Angst und das Bedürfnis nach einem freundlichen Wort? Das bleibt. Sorgen Sie dafür, dass sie das da drinnen nie vergessen.“

„Versprochen“, sagte ich.

Sie stieg in das kleine Auto ihres Enkels ein und fuhr davon. Die Mensa roch immer noch nach Desinfektionsmittel und Großküche. Aber wenn man genau hinroch, mischte sich darunter jetzt eine ganz feine Note.

Es roch nach Menschlichkeit. Und ein ganz klein wenig nach geschälten Mandarinen.

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